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„Ich hinke immer hinter mir her“
Mara Mattuschka und die permanente performative Überschreitung. Tom Waibel in: Mara Mattuschka, Wien: Filmarchiv Austria 2019.
„Ich hinke immer hinter mir her“, erklärt Mara Mattuschka in einem Oral History Interview, in dem sie mehr als drei Stunden lang Auskunft über ihr Leben gibt und Überlegungen zu ihrer Arbeit anstellt, „denn ich bin im Kopf immer viel weiter, weil es so viele Widerstände gibt.“ (Mattuschka 2012) Das Selbstzeugnis mag überraschen, denn kaum etwas charakterisiert den vielfältigen künstlerischen Ausdruck Mattuschkas besser, als ihr unbeschwerter und zugleich abgründiger Humor, mit dem sie in schier unerschöpflicher spielerischer Neugier die Brüche und Verwerfungen des menschlichen Begehrens auslotet, und sich dabei in so unterschiedlichen Medien wie Malerei, Film und Performance gleichermaßen lustvoll und präzise artikuliert. Mittels Exzess und Exzentrik, Übertreibung und Überschreitung lässt sie Widerstände und Grenzen scheinbar mühelos hinter sich, und dringt in die paradoxen Topologien einer sich selbst „bewussten Unschuld“ vor... (weiterlesen)

Die wahrhafte Bibliothek
Eine Realsatire von Tom Waibel in: Im Prozess 03, Magazin der Kunstschule Wien 2019.
[Achtung: Der Präsident, der hier das Wort ergreift, hat diese Funktion zwar längst nicht mehr inne, aber der einzig richtige Bibliothekszustand, von dem er spricht, besteht noch immer.]
- Gut, dass Sie gekommen sind, Herr Doktor, ich hatte befürchtet, Sie würden gar nicht auftauchen, weil ich Sie so kurzfristig hergebeten habe, das mögen die wenigsten, wenn sie überraschend wohin bestellt werden, die meisten ertragen das nicht, wenn sie unvorhergesehen wo auftauchen sollen, es gibt kaum welche, die schnell irgendwohin kommen, wenn man sie aus heiterem Himmel darum bittet, drum hatte ich befürchtet, Sie würden nicht kommen, Herr Doktor, da ich doch so kurzfristig danach gefragt habe, knurrte der Präsident... (weiterlesen) 
 
Ich sehe nichts, wenn Du nicht siehst
Überlegungen zur Synästhesie von Tom Waibel in: Muzak & Riha. SEEN UNSEEN SCENE, Rheine: Verlag Bentlage 2018.
Die unvorhersehbaren Risiken dieser Arbeit beginnen mit einem partizipativen Prozess, in dem sich Muzak & Riha entschließen, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die abseits der gesicherten Bereiche des Sichtbaren leben, um gemeinsam das Andere der Sichtbarkeit, das Unsichtbare auszuloten. In Auseinandersetzung mit einem Soundtrack, der hörspielerischen Tonspur eines noch nicht sichtbaren Filmes, entwerfen blinde TeilnehmerInnen über 100 Bilder, die als Ganzes und in Teilen, als Texte und Texturen, als Motive und Motivationen zu einem 22 Minuten langen Tast-, Druck-, und Graphikfilm montiert werden, den Muzak & Riha so charakterisieren: „Im Film geht es um Menschen, die nicht sehen können. Aber nicht, weil sie blind sind, sondern weil sie im Moment keine andere Möglichkeiten haben, als sich anderen anzuvertrauen.“... (weiterlesen)

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Beiträge für die frühere Wiener Kunstschule


Manifest zur Erhaltung der Wiener Kunstschule (2013)

365/12: Reif fürs Museum Vom Mausoleum zum Gemeinbesitz: Über Entwicklungen und Trends bei den Museen im Zeichen der Vollrechtsfähigkeit und die Frage nach möglichen Kriterien für eine gute Museumspraxis. Eine kritische Analyse.

365/11: Machtstrukturen und die Kunst der Erinnerung
Erinnerung als Kunst zu postulieren und sie, wie es im Titel dieses Texts geschieht, mit Machtstrukturen in Bezug zu setzen, heißt auch, eine bestimmte Genealogie der Macht zu hinterfragen. Warum? Die herrschaftliche Familiengeschichte des europäischen Denkens nennt die Erinnerung Mnemosyne, sie ist als Titanide keine geringere als die Tochter von Himmel und Erde und damit eine Enkelin des Chaos. Mnemosyne ist die Mutter aller Kunst, sie gebärt dem ersten olympischen Verführer die neun Musen, deren Kult noch heute die Museen belebt...
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365/10: Geliebte Kunst
Um die Mitte der 1960er Jahre versuchte eine namhafte Anzahl von SoziologInnen und StatistikerInnen unter der Leitung von Pierre Bourdieu und Alain Darbel die Liebe zur Kunst messbar zu machen. Dazu wurden am Eingang von 123 ausgewählten französischen Kunstmuseen tausende von Fragebogen ausgefüllt, Interviews geführt und deren Ergebnisse mittels Vergleichsuntersuchungen in den Niederlanden, Polen und Griechenland überprüft...
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365/09: Reiche Eltern für Alle!
„Reiche Eltern für Alle!“, diese grotesk anmutende Forderung beanspruchte während der ersten Tage im besetzten Audi-Max der Uni Wien einen prominenten Platz links neben der Bühne. Unweit entfernt davon ein Plakat in Form eines Farbtabletts und inmitten bunter Farbklekse die bedeutend nüchternere Botschaft der Studierenden der kunstschule.at: „Die kunstschule.at ist solidarisch“. Solidarisch womit? Mit der Forderung nach reichen Eltern für alle? Welchen Sinn hat dieser erstaunliche Slogan in der aktuellen Auseindersetzung um Bildung als einem wesentlichen Ort des Konflikts um den Besitz von Wissen, die Reproduktion der Arbeitskraft und die Herstellung sozialer und kultureller Stratifizierung?
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366/08: Kunst kommt nicht von Können!
Die Etymologie, d.h. die Erforschung der Herkunft der Wörter, ist im Angesicht der Kunst erstaunlich selbstsicher: Der seit dem 9. Jahrhundert nachweisbare, im Mittelhochdeutschen wie im Althochdeutschen gleich lautende Begriff ‚kunst’ wird hier als Abstraktum mit Übergangslaut dem ‚können’ zugeordnet. Eine Einengung vom Verständnis der Kunst als künstlerische Betätigung im Gegensatz zum natürlich Vorhandenen wäre demnach erst im 18. Jahrhundert eingetreten und ließe die Bedeutung von Kunst als dem ‚Gekonnten’ im Unterschied etwa zum ‚Gefundenen’ durchaus bestehen. Dummerweise endet die Erforschung der Herkunft der Wörter damit auch schon und schert sich nicht mehr länger darum, welche Bedeutungsveränderung der Begriff im 19. und 20. Jahrhundert durchlaufen hat...
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Der Wiener Deewan
Ich freu‘ mich schon seit Tagen auf diese Reportage, denn sie führt mich in ein Lokal, in dem die leckersten Pakistanischen Currys dieser Stadt zubereitet werden, in den Wiener Deewan in der Liechtensteinstraße 10, Buffet, Take-Away und Catering von Montag bis Samstag von 11–23 Uhr. Ich bin mit Natalie Deewan verabredet, die dieses Lokal gemeinsam mit ihrem Mann Afzaal seit 2005 betreibt, der Duft der Currys ist schon von der Straße her zu riechen, alle Diwans im Deewan sind rappelvoll, Lokalkritiker sollte man werden und die Arbeit stets mit Genuss verbinden...
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Texte zu Kunst + Philosophie


Freibeuter im Zeichenmeer
Im Zeitalter von Biotechnologie und Molekulargenetik sind Semiologie und Biopolitik in ein enges Verhältnis zueinander getreten. Die sich am Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelnde Linguistik hat in hohem Maß das Verständnis und Selbstverständnis der (okzidentalen) Wissenschaften zu revolutionieren vermocht und eine Flut von Verschiebungen in Fragestellung und Methode ausgelöst, nicht nur in den Gesellschaftswissenschaften, für die in der Philosophie der Begriff des linguistic turn geprägt wurde, sondern auch in Bereichen, die den Problemen von Sprache und Übersetzung scheinbar so fern liegen wie Biologie, Chemie, Biochemie und Biotechnologie...
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Ursachenmetaphysik
Subalterne können nicht sprechen und Wilde haben keine Kultur. Worin gleichen sich diese Behauptungen, die doch aus scheinbar so unterschiedlichen diskursiven Kontexten gerissen sind? Während die letztere eine imperiale Geste kolonialer Selbstherrlichkeit in Begriffe zwängt, bringt die erstere eine postkoloniale Kritik am hegemonialen Selbst(miss)verständnis auf eine – vielfach unverstandene – Formel. Dennoch funktionieren beide wie zwei Seiten derselben Münze, desselben Tauschgelds, das die Maschinerie der globalisierten Unrechtsverhältnisse schmiert...
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Who is really free? Antonio Negri and the Prison
After more than fourteen years of exile in France, Negri decided to return from his “exodus in time” where he maintained captured in a strained relation between the necessity of reterritorialization ­– the reencounter with persons and places ­– and the demand to restitute personal and political history. “I saw myself getting old with no possibility of opening this golden cage in which I was trapped. This made me panic…  In fact it is important to be part of an environment in which you can act!” For him winning back the potency of political action signified a paradox detour of years in jail: “I knew I had to pay this price in order to obtain my freedom again, in order to get a passport.”
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Die gute Regierung der Zapatistas 
Transkription eines Videos von Oliver Ressler & Tom Waibel, aufgenommen in Chiapas, Mexiko, 31 Min., 2006. Comandanta Esther: Wir als indigene Frauen kämpfen wegen dieser Situation, dass wir die dreifache Ausbeutung erleiden: als Frauen, als Indigene und als Arme. Als Frauen werden wir nicht beachtet, wir werden erniedrigt und gering geschätzt. Als Indigene werden wir aufgrund unserer Kleidung, Farbe, Sprache und Kultur diskriminiert. Als Arme haben wir kein Recht auf Gesundheit und Erziehung und man hat uns vergessen...
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Zur audiovisuellen Selbstbestimmung
Die einzige Form, in der sich kulturelles Gedächtnis schaffen lässt, ist, sich in den Träumen der anderen erinnert zu machen. Das ist keine Metapher: so viele Völker, die einem Krieg widerstehen, der kulturell, medial und ökono­misch gegen sie geführt wird und der sie aus dem Gedächtnis der Menschheit zu löschen droht, finden ihre einzige und fragile Ruhe, indem sie sich in den Träumen der anderen erinnert wissen...
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Jede/r ist eine Minderheit
Zehn Jahre nach den größten Protestaktionen in der zweiten Republik gegen eine schwarzblaue Regierung stehen jetzt Wahlen in Wien bevor. Was einst vehement als rassistischer Ausnahmezustand angeprangert wurde, droht zusehens zur alpenrepublikanischen Normalität zu werden. Vor diesem ernüchternden Hintergrund versuchen wir, das befreiende Potential filmischer Arbeit jenseits von nationalen Grenzen und provinziell-reaktionärer Kulturpolitik wieder zu finden...
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Mediale Urbanität
Mediale Städte lesen zu wollen wie einen Text, der sich vor uns ausbreitet, entspringt dem Überschwang eines skopischen Begehrens, durch das sich die panoptische Fiktion des Wissens Ausdruck verschafft. Die folgenden Ansichten versuchen daher keineswegs die Verwandlung der urbanen Medialität durch die Schaffung einer theoretischen Distanz einzulösen, die letztlich nur DatenvoyeurInnen des öffentlichen Raums hervorbringt; sie mäandern vielmehr in Art der FlaneurInnen durch eine mediale Urbanität, die aus den Versatzstücken mehrerer Städte (Wien, Berlin, Rotterdam, New York, Sao Paolo und Bandung) während unterschiedlicher Momente am Beginn des 21. Jahrhunderts montiert ist...
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Für eine neue Linke als abstrakte Gesellschaftsmaschine
[Eine Selbstanrufung] In einigen Sprachen gibt es eine grammatikalische Form, die den Imperativ als Konjunktiv setzt: Der Hortativ ist der Modus der konjunktivischen Aufforderung und zugleich die Instituierung eines noch ungenauen, eines werdenden Wirs. Im „Lasst uns …!“, „Wir wollen …!“ steckt ein Konjunktiv, der eine Vielheit der ersten Person einfordert, deren Umrisse im Werden begriffen sind. Form und Inhalt des vorliegenden Textes sind diesem Modus, der sich zwischen Ermöglichung und Selbstanrufung bewegt, sehr ähnlich. Lassen „wir“ uns also auf eine ungewohnte hortative Übung ein, auf die Debatte über die Notwendigkeit eines neuen linken Bündnisses!
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Die folgenden Überlegungen sind von einem Essay inspiriert, der – mehr als 20 Jahre nach seiner Präsentation als Vortrag mit dem Titel Macht, Begehren, Interesse - nun erstmals vollständig übersetzt vorliegt: Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übersetzt von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien: Turia u. Kant 2008...
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Von Omaru bis Omofuma
Zur Kritik rassistischer Gewalt filmischer Repräsentation.
[Konstruktion von Weißsein] Vida Bakondy und Renée Winter haben mit ihrer Studie „Nicht alle Weißen schießen.“ Afrika-Repräsentationen im Österreich der 1950er Jahre im Kontext von (Post)Kolonialismus und (Post-)Nationalsozialismus eine dichte und vielschichtige Untersuchung zu Produktion, Rezeption und Kontinuität rassistisch motivierter Gewalt vorgelegt. Am Beispiel des Films Omaru – eine afrikanische Liebesgeschichte erarbeiten sie eine präzise Analyse von Produktion/sbedingungen, Bedeutungsproduktion und Rezeption/sbedingungen der für das Selbstverständnis im Österreich der Nachkriegszeit konstitutiven rassistisch/sexistischen Diskurse...
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WunschmaschinistInnen aller Territorien verkoppelt euch!
Bei Turia + Kant ist der siebte Band der schillernden Reihe Es kommt darauf an, Texte zur Theorie der politischen Praxis erschienen. Diesmal kommt es auf nicht weniger als „Tausend Maschinen“ an, die über Wunschmaschinen, Kriegs- und Theatermaschinen bis zu Mayday-Maschinen durch Abstrakte Maschinen mäandern...
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Mehrfachbelichtungen. Dziga Vertov und der Versuch eines revolutionären Kinos
Erste Sequenz: Gekippte Aufnahmen eines kinoki-Aktivisten mit Kamera wechseln in rascher Folge mit dem Zwischentitel: „Wir blenden die Sterne mit unseren Projektoren!“ Als wir in der ersten Hälfte der 90er Jahre eine Filmgruppe mit Homebase im Wiener Ernst-Kirchweger-Haus nach Vertovs Begriff für Film-AktivistInnen kinoki benannten, hatten wir lediglich den „Mann mit der Kamera“ gesehen...
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